Arbeitsschutz; Urteile auf EU Ebene

IG Metall

22.11.2001 Befreiung von Dokumentationspflicht ist rechtswidrig

Die im Arbeitsschutzgesetz enthaltene Befreiung der Kleinbetriebe von der Dokumentationspflicht verletzt europäisches Recht. In der vor dem Europäischen Gerichtshof deshalb anhängigen Klage der EU-Kommission gegen die Bundesregierung hat der Generalanwalt jetzt in seinen Schlussanträgen die Auffassung vertreten, die Bundesregierung habe die EG-Arbeitsschutz-Rahmenrichtlinie unvollständig umgesetzt. Das Ziel dieser Richtlinie, alle Beschäftigten in gleicher Weise zu schützen, dürfe nicht wirtschaftlichen Erwägungen untergeordnet werden.

Das Vertragsverletzungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen mangelhafter Umsetzung der EG-Rahmenrichtlinie Arbeitsschutz (89/391/EWG) ist in die nächste Phase getreten. Die EU-Kommission will vor dem EuGH festgestellt sehen, dass Deutschland gegen seine Verpflichtungen verstoßen hat, indem es im Arbeitsschutzgesetz (§ 6) Arbeitgeber mit zehn oder weniger Beschäftigten von der Verpflichtung befreite, die Ergebnisse einer Gefährdungsbeurteilung schriftlich zu dokumentieren (vgl. Arbeit & Ökologie-Briefe 5/2000, Seite 5).

Erste Mahnung schon 1997
Zur Erinnerung: Die beanstandete Ausnahmegenehmigung hatte die damalige CDU-geführte Bundesregierung mit Rücksicht auf die Wettbewerbsinteressen kleinerer Betriebe erdacht. Abgeordnete von CSU und FDP hatte zeitweilig sogar versucht, diese Befreiung auf Betriebe mit bis zu 20 Beschäftigten auszudehnen (vgl. Arbeit & Ökologie-Briefe 6/1996, Seite 3 und 14/1996, Seite 2). Der jetzt geltende faule Kompromiss hat jedenfalls zur Folge, dass nicht wenige Kleinbetriebe die Befreiung von der Dokumentationspflicht auch als Befreiung von der Verpflichtung betrachten, überhaupt die Gesundheitsgefährdungen an ihren Arbeitsplätzen zu ermitteln und zu beurteilen.

Die EU-Kommission hatte die (alte) Bundesregierung bereits mit einem Mahnschreiben vom 19. November 1997 auf ihr Versäumnis hingewiesen. Am 19. Oktober 1998 hatte sie der Bundesregierung eine "mit Gründen versehene Stellungnahme", also eine allerletzte Mahnung vor der förmlichen Klage, übermittelt. In ihrer Antwort vom 26. Januar 1999 hatte die (inzwischen neue) Bundesregierung die Position ihrer Vorgängerregierung übernommen und in einem Schreiben an die EU-Kommission behauptet, die Arbeitsschutz-Rahmenrichtlinie enthalte keine allgemeine Verpflichtung zur Dokumentation der Gefährdungsbeurteilungen. Darauf hin hatte die EU-Kommission am 4. Januar 2000 vor dem EuGH Klage gegen die Bundesrepublik erhoben. In dem Verfahren gibt es noch keine definitive Entscheidung. Allerdings wurden kürzlich die Schlussanträge des Generalanwalts L.A. Geelhoed (Niederlande) vorgelegt. Dort wird der Vorwurf gegen die Bundesregierung nicht in allen, aber in entscheidenden Punkten bekräftigt.

Die Argumente der Bundesregierung
Ein zentraler Streitpunkt im anhängigen Rechtsstreit ist die Behauptung der alten wie der neuen Bundesregierung, die Befreiung der Kleinbetriebe in § 6 Arbeitsschutzgesetz werde dadurch ausgeglichen, dass vergleichbare Dokumentations-Verpflichtungen durch andere Rechtsvorschriften, nämlich durch das Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG), das Sozialgesetzbuch VII und die auf diesen Gesetzen beruhenden Unfallverhütungsvorschriften festgeschrieben seien. Diese regelten insbesondere die Berichtspflichten der Betriebsärzte und der Fachkräfte für Arbeitssicherheit. Später verwies die Bundesregierung in diesem Zusammenhang auch noch auf die Biostoff-Verordnung. Diese Argumentation akzeptierte die EU-Kommission nicht. Die genannten Regelungen bedeuteten keine lückenlose Umsetzung der für alle Betriebe, auch Kleinbetriebe verbindlichen Dokumentationspflicht.

Schutz-Ziele gelten für alle gleich
In seinen Schlussanträgen bezog Generalanwalt Geelhoed eine differenzierte Position: Die EG-Arbeitsschutz-Rahmenrichtlinie wolle grundsätzlich alle Beschäftigten schützen, ungeachtet der Belegschaftszahl ihres Betriebes. In dieser Hinsicht könne der Arbeitsschutz nicht rein wirtschaftlichen Erwägungen wie eventuell einer unverhältnismäßigen bürokratischen Belastung kleiner Unternehmen untergeordnet werden.

Die Vorwürfe der Kommission, so fasste Geelhoed zusammen, gehen im Wesentlichen dahin, dass das von der Bundesregierung gewählte System, wonach die Dokumentationsverpflichtung für kleine Betriebe in Sondervorschriften geregelt sei, lückenhaft sei. Dadurch seien die Bestimmungen der Richtlinie nicht vollständig umgesetzt. Dieser Auffassung folgte der Generalanwalt nicht in vollem Umfang. Die Dokumentationspflicht für Kleinbetriebe könne durchaus in anderen Regelungen als dem Arbeitsschutzgesetz festgehalten werden. Die Kommission habe nicht hinreichend bewiesen, dass das deutsche System den fraglichen Richtlinienbestimmungen nicht entspreche.

Allerdings erhebt Geelhoed andere Einwände gegen die in Deutschland geltende Regelung: Die in § 14 Abs. 2 Arbeitssicherheitsgesetz vorgesehene Befreiungsmöglichkeit für bestimmte Betriebe ermöglicht es demnach dem Bundesarbeitsminister, Betriebe, die auf Grund der Richtlinie die Dokumentationspflicht erfüllen müssen, davon "rechtswidrig" auszunehmen. Dort wird nämlich festgehalten, dass Betriebe von der Verpflichtung befreit werden können, die in den §§ 3 und 6 ASiG vorgeschrieben Aufgaben der Betriebsärzte und der Fachkräfte für Arbeitssicherheit schriftlich zu dokumentieren. Die Arbeitsschutz-Rahmenrichlinie sehe nämlich eine solche Befreiungsmöglichkeit für Kleinbetriebe nicht vor. Was die Bundesregierung zur Verteidigung gegen die Klage vorgebacht habe, sei nicht haltbar.

Bundesregierung soll verurteilt werden
Deshalb beantragte der Generalanwalt, der EuGH möge feststellen, dass die Bundesrepublik Deutschland gegen ihre Verpflichtungen verstoßen habe, "indem sie in § 14 Abs. 2 Arbeitssicherheitsgesetz den Bundesminister ermächtigt festzustellen, dass bestimmte Betriebsarten u.U., die insbesondere mit der Anzahl der Beschäftigten zusammenhängen, von der Erfüllung der in den §§ 3 und 6 Arbeitssicherheitsgesetz genannten Aufgaben befreit sind."

Sollte sich der EuGH der Ansicht des Generalanwalts anschließen, würde das die Bundesregierung verpflichten, entweder die in § 14 ASiG enthaltenen Ausnahmeregelungen aufzuheben oder den § 6 Arbeitsschutzgesetz so zu ändern, dass die Dokumentationspflicht für die Gefährdungsbeurteilung ausnahmslos für alle Betriebe, auch für Kleinbetriebe gilt.

Letzte Änderung: 21.03.2013