Rechtsprechung zur Gleitzeit

14.07.2004 Pflicht des Arbeitgebers, für Einhaltung der Gleitzeitregelung zu sorgen

Das Bundesarbeitsgericht hat in einem Verfahren des Betriebsrats der Daimler Chrysler Zentrale und der IG Metall gegen die Daimler Chrysler AG mit Beschluss vom 29.4.2004 (1 ABR 30/02, veröffentlicht in NZA 2004, 670 ff.) entschieden, dass die Arbeitgeberin Betriebsvereinbarungen nach § 77 Abs. 1 BetrVG im Betrieb nicht nur durchzuführen hat. Sie hat auch betriebsvereinbarungswidrige Maßnahmen zu unterlassen und dafür Sorge zu tragen, dass sich die Arbeitnehmer an die Regelungen der Betriebsvereinbarung halten. Der Betriebsrat kann die Durchführung einer Betriebsvereinbarung vom Arbeitgeber unabhängig davon verlangen, ob ein grober Pflichtenverstoß in Sinne von § 23 Abs. 3 BetrVG vorliegt.

Weiterhin stellt das BAG fest, dass die Regelung in einer Betriebsvereinbarung, die über den tarifvertraglich festgelegten Ausgleichzeitraum (hier ein Jahr) hinaus geht, gegen die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG verstößt und damit unwirksam ist.

Im Folgenden möchten wir den zugrunde liegenden Sachverhalt, die Entscheidung des BAG und die Auswirkungen auf die betriebliche Praxis näher erläutern.

Betriebliche Ausgangslage und Konflikt
Zwei Betriebsvereinbarungen zur Arbeitszeit in der Zentrale von DaimlerChrysler in Stuttgart sehen u.a. vor:

Einen Arbeitszeitrahmen von 6.00 Uhr bis 19.00 Uhr.
Die Übertragbarkeit von 30 Guthabenstunden auf den Folgemonat bzw. 100 Guthabenstunden auf das nächste Jahr.

Darüber hinausgehende Stunden verfallen.
Sowohl die Beschäftigten als auch die Führungskräfte sorgen gemeinsam und eigenverantwortlich für die Einhaltung der Arbeitszeit und achten auf ein ausgeglichenes Zeitkonto.

In vielen Fällen wurde nach 19.00 Uhr gearbeitet, die Konten nicht auf 30 bzw. 100 Stunden abgebaut. Die Arbeitgeberin verhielt sich völlig passiv und nahm die unzähligen unbezahlten Arbeitsstunden gerne "in Kauf".

Betriebsräte und IG Metall wollten erreichen, dass die Arbeitgeberin etwas gegen die Verletzung der Betriebsvereinbarung unternimmt und für die Einhaltung der Arbeitszeitbestimmungen sorgt. Die Arbeitgeberin meinte, dass sie die Arbeit nicht angeordnet habe und deshalb für Verstöße nicht verantwortlich gemacht werden könne.

Beschluss des Bundesarbeitsgerichts
Das BAG hat den Anträgen des Betriebsrats basierend auf § 77 Abs. 1 Satz 1 BetrVG und der IG Metall auf der Grundlage von § 23 Abs. 3 BetrVG teilweise stattgegeben.

2.1 Arbeit vor 6.00 Uhr und nach 19.00 Uhr

Die Betriebsvereinbarung legt verbindlich einen zulässigen täglichen Arbeitszeitrahmen fest. Die Arbeitszeit darf nicht vor 6.00 Uhr beginnen und muss spätestens um 19.00 Uhr enden. Daraus folgt, dass die Arbeitgeberin Arbeitsleistungen vor 6.00 Uhr und nach 19.00 Uhr ohne Zustimmung des Betriebsrats nicht dulden darf. Wörtlich:

"...bedeutet jedoch nicht, dass der Arbeitgeber der Erbringung betriebsvereinbarungswidriger Arbeitsleistung einzelner Arbeitnehmer tatenlos zuschauen dürfte. Er hat vielmehr seinen Betrieb so zu organisieren, dass die betriebsverfassungsrechtlich geregelten Arbeitszeitgrenzen eingehalten werden. Hierzu muss er die Übereinstimmung betrieblicher Abläufe mit den normativen Vorgaben der von ihm geschlossenen Betriebsvereinbarung überprüfen und erforderlichenfalls korrigierend eingreifen. Er kann sich seiner Verantwortung für die Führung des Betriebes nicht entziehen" (S. 25).

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den Bestimmungen der Betriebsvereinbarung, wonach Arbeitszeiten außerhalb des festgelegten Arbeitszeitrahmens nicht auf das Gleitzeitguthaben angerechnet werden und die Arbeitgeberin die außerhalb des Gleitzeitrahmens geleisteten Arbeiten nicht vergütet hat. Wörtlich:

"Dabei kann dahin stehen, ob die Betriebsparteien überhaupt wirksam vereinbaren können, dass außerhalb des Gleitzeitrahmens mit Duldung der Arbeitgeberin geleistete Arbeitszeiten unvergütet bleiben, oder ob dies gegen § 9.4 MTV verstößt, wonach in der Zeit zwischen 19.00 und 6.00 Uhr geleistete Arbeit zuschlagspflichtige Nachtarbeit ist. Jedenfalls kann aus ...(den Betriebsvereinbarungen)... nicht gefolgert werden, dass Arbeitszeiten außerhalb des ausdrücklich festgelegten Gleitzeitrahmens zulässig sein sollen. Die Regelungen relativieren die Verbindlichkeit des Gleitzeitrahmens nicht, sondern bestätigen und verstärken diese." (S. 24).

2.2 Übertragbarkeit von 30 bzw. 100 Stunden auf den nächsten Monat bzw. das nächste Jahr

Nach Ansicht des BAG verstößt die Betriebsvereinbarung insoweit gegen den MTV Metall- und Elektroindustrie Nordwürttemberg/Nordbaden. Der sehe einen Ausgleichszeitraum von einem Jahr vor. Am Ende des Ausgleichszeitraums müsse der Durchschnitt von 35 Stunden erreicht sein, das Arbeitszeitkonto also auf "Null" stehen. Eine Übertragung von Gutstunden sei nach dem Tarifvertrag nicht möglich:

"§ 7.5 Abs. 2 Satz 2 MTV und Nr. 3.1 Beschäftigungssicherungs-TV regeln zwingend die zeitliche Höchstdauer der Ausgleichszeiträume. Entgegen der von der Arbeitgeberin ... vertretenen Auffassung gelten diese Bestimmungen auch für betriebliche Gleitzeitregelungen ... Die tariflichen Bestimmungen lassen die in Nr. 5 der Betriebsvereinbarung vorgesehene Übertragung von Arbeitszeitguthaben über den Ausgleichszeitraum hinaus nicht zu. Nach § 7.5 Abs. 2 Satz 1 MTV kann die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit auch ungleichmäßig auf mehrere Wochen verteilt werden. Nach § 7.5 Abs. 2 Satz 2 MTV muss sie aber im Durchschnitt von längstens 6 Monaten erreicht werden. Nach Nr. 3.1 Beschäftigungssicherungs-TV beträgt der Ausgleichszeitraum, dessen Beginn und Ende nach § 7.5.3 Satz 2 MTV durch Betriebsvereinbarung festzulegen ist, längstens 12 Monate. Die tariflichen Bestimmungen schreiben damit zwingend vor, dass Abweichungen von der nach § 7.1 MTV 35 Stunden betragenden wöchentlichen Arbeitszeit zwar möglich sind, diese aber nach den jeweils bestimmten Zeiträumen im Durchschnitt erreicht sein muss. Die Übertragung eines Zeitguthabens über den Ausgleichszeitraum hinaus, wie sie in Nr. 5 ... der Betriebsvereinbarung ausdrücklich vorgesehen ist, gestattet der Tarifvertrag nicht" (S. 18/19).

Praktische Konsequenzen
3.1 Betriebliches Vorgehen

Bei Betriebsvereinbarungen über Gleitzeit und Arbeitszeitkonten ist darauf zu achten und zu drängen, dass die in der Vereinbarung festgelegten Grenzen (Arbeitszeitrahmen und Grenzen für Gutstunden) eingehalten werden. Der Arbeitgeber sollte aufgefordert werden, konkret zu sagen, welche Maßnahmen er zur Einhaltung der Betriebsvereinbarung ergreifen wird. Die Ausrede, dass die Beschäftigten selbst oder die Vorgesetzten anstatt der Arbeitgeber verantwortlich seien, zieht nicht. Und Betriebsräte sollten sich auch nicht in die Rolle einer Ordnungspolizei drängen lassen, wenn ihnen der Arbeitgeber andient, doch Kontroll- und Sanktionsmittel gegen die Beschäftigten zu benennen. Bei anderen Verstößen gegen die betriebliche Ordnung weiß der Arbeitgeber sehr wohl, wie er seine Organisations- und Führungsmacht durchsetzen kann.

3.2 Betriebsvereinbarungen

Viele Betriebsvereinbarungen sehen die Übertragbarkeit von Arbeitszeitguthaben über das Ende des jeweiligen tariflichen Ausgleichszeitraums hinaus vor. Dies verstößt gegen die Tarifverträge (der Metall- und Elektroindustrie Nordwürttemberg/Nordbaden und in anderen Tarifgebieten).

Die Betriebsvereinbarungen sind zu überprüfen und so der tariflichen Lage anzupassen, dass am Ende des Ausgleichszeitraums das Gleitzeitguthaben auf Null reduziert ist. Hier haben sich vor allem solche "Ampel-Regelungen" bewährt, die im Rahmen überschaubarer Ausgleichsvolumina frühzeitig den Abbau von Guthaben einleiten.

3.3 Unbezahlte Arbeitszeiten

In vielen Fällen ist vorgesehen, dass Zeiten außerhalb des vereinbarten Arbeitszeitrahmens nicht bezahlt werden bzw. "überschießende Guthaben "verfallen"/gekappt werden.

Es werden immer wieder "erzieherische" Gründe für diese Regelung genannt. Arbeitszeitpolitisch ist sie höchst fragwürdig. Auch rechtlich ist sie äußerst zweifelhaft, wie sich auch aus dem BAG-Beschluss entnehmen lässt:

Bei der Umsetzung des Ziels "keine unbezahlten Arbeitszeiten" werden voraussichtlich die Einwände der Arbeitgeber, vor allem Angestellte besäßen und nutzten so viele Freiräume während ihrer betrieblichen Anwesenheitszeit, dass die erfasste Zeit nicht vollumfänglich als Arbeitszeit anerkannt werden dürfe. Betriebsräte dürfen sich dann nicht zur Mitwirkung bei Abzügen z.B. als "Sozialzeiten" o.ä. hinreißen lassen. Der Unterschied zwischen Werk- und Arbeitsvertrag muss erhalten bleiben und die Erkenntnisse zur Eindämmung der Gefahren bei der "Vertrauensarbeitszeit" (vgl. BAG vom 6.5.2003, AiB 2003, Seite 749 oder AuR 2004, Seite 70) umgesetzt werden.

Sanktionen bei Verletzung der Betriebsvereinbarung Sanktionen sollten in jeder Betriebsvereinbarung vorgesehen werden.

Die beste Antwort auf Verstöße gegen Regelungen zur Arbeitszeithöchstdauer sind Absprachen, dass bei relevanter längerfristiger Missachtung der Normen Neueinstellungen in einer genau zu berechnenden Zahl vorzunehmen sind. Solche Vereinbarungen gibt es und sie werden praktiziert.

Bewährt haben sich auch Regelungen, nach denen der Arbeitgeber für jede unzulässig geleistete Arbeitsstunde pro Beschäftigten einen bestimmten Geldbetrag an eine soziale Einrichtung zu zahlen hat.

Letztendlich ist darauf hinzuweisen, dass bei notorischer Missachtung der vereinbarten Regelungen durch den Arbeitgeber die Betriebsvereinbarung durch den Betriebsrat (außerordentlich) gekündigt werden kann. Bei Abschluss der Vereinbarung sollte dieses außerordentliche Kündigungsrecht für derartige Fälle festgeschrieben werden

Letzte Änderung: 21.03.2013