Unseren Sozialstaat gestalten

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20.12.2016 Digitalisierung, Globalisierung, zunehmende Ungleichheit und vielfältige Lebensmodelle: Die IG Metall geht die Herausforderungen des Sozialstaates an - Für sichere Arbeit und ein gutes Leben

Der deutsche Sozialstaat ist in keiner guten Verfassung. Er hält seine Versprechen nicht mehr für alle ein. Die Versprechen von sozialem Ausgleich, von Sicherheit und gleichen Teilhabechance für alle Menschen. Nicht weniger als die Spaltung der Gesellschaft droht. Auf dem Sozialstaatskongress "Sozialstaat 4.0 - sicher, gerecht und selbstbestimmt" diskutierte die IG Metall im Berliner Gasometer, wie die Herausforderungen bewältigt werden können.

"Bei der Diskussion um die Zukunft des Sozialstaats", sagte der Erste Vorsitzende Jörg Hofmann, gehe es um "die Zukunft eines Sozialmodells, das sich als Kompromiss zwischen ungebändigtem Kapitalismus und staatlich reglementiertem Sozialismus - als soziale Marktwirtschaft - bewährt hat."

Welche Verwerfungen sind heute in Deutschland besonders auffällig und verlangen dringend nach einem veränderten politischen Kurs?

Beispiele zunehmender Ungleichheit

Zwar ist die Beschäftigungsquote auf einem Höchststand. Doch die Einkommensungleichheit in Deutschland hat sich heute wieder dem Niveau am Ende des wilhelminischen Kaiserreichs angenähert. Der Staat hat den Arbeitsmarkt dereguliert, und so ist der größte Niedriglohnsektor Europas entstanden.

Der soziale Status der Eltern bestimmt die Bildungschancen der Kinder stärker als seit Jahrzehnten. Die Lebenserwartung der Oberschicht liegt durchschnittlich acht Jahre über der der Unterschicht. Der Markt wird es nicht richten.

Allein diese Beispiele zeigen, dass mehr Gerechtigkeit nötig ist - sonst vertieft sich die Spaltung der Gesellschaft. Der Markt wird es nicht richten.

In einer globalisierten Weltwirtschaft und einer zunehmend digitalen Arbeitswelt müssen Gewerkschaften neue Antworten auf neue Probleme und Herausforderungen finden und den Sozialstaat entsprechend fortentwickeln, sagte Hofmann vor rund 400 Metallerinnen und Metallern sowie Vertretern aus Politik und Gesellschaft.

Wie muss heute ein Sozialstaat aussehen, der Sicherheit, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung für alle ermöglicht, der nun aber unter völlig neuen ökonomischen Bedingungen erstritten, erkämpft und verteidigt werden muss, fragte Hofmann. "Und was können die Gewerkschaften dazu beitragen, dass ein solcher Sozialstaat gelingt?"

Sozialstaat muss "gemacht" werden

Der Sozialstaat sei in keiner Epoche seiner Geschichte vom Himmel gefallen. Immer war er das Resultat politischer und gewerkschaftlicher Anstrengungen. "Sozialstaat wurde schon immer gemacht", sagte Hofmann.

Das Grundgesetz überträgt die Gestaltung der Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen in unserem demokratischen Sozialstaat den Tarifvertragsparteien. Konkret vor Ort tätige Tarifparteien kennen die Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen besser als "Vater Staat" aus seiner Vogelperspektive. Der Sozialstaat des 21. Jahrhunderts, der Sozialstaat 4.0, könne nur zukunftsfähig sein, wenn er in der Arbeits- und Zivilgesellschaft verankert ist, wenn er also tagtäglich von den Beschäftigten gemeinsam erfahren und gelebt wird.

"Der Sozialstaat funktioniert am besten dann, wenn er von den beteiligten Akteuren selbst gemacht wird", sagte Hofmann. Weder könne und solle der Staat diese Rolle übernehmen, noch dürfe deregulierten Märkten diese Aufgabe überlassen werden. Das Motto der IG Metall laute: So viel Eigenorganisation und Übertragung von Aufgaben an die direkten Akteure wie möglich.

Gesetz, Tarif und betriebliche Regelungen

Die Verankerung des Sozialstaats in der Arbeitswelt verlange - in Zukunft noch viel stärker als heute - dass Zusammenspiel dreier Ebenen: Gesetz, Tarif und betriebliche Regelungen. "Dieses Zusammenspiel ist für mich der beste Weg zur zeitgemäßen Fortentwicklung des Sozialstaats", sagte Jörg Hofmann. "Wir brauchen die Stärkung der Tarifbindung, eine aktive Betriebspolitik und ein neues Ineinandergreifen der Räder von Gesetz, Tarif und Mitbestimmung, soll es in Zukunft gerecht für alle zugehen!"

Wie das konkret in vielen Betrieben und Unternehmen schon erfolgreich gemacht wird, wird auf dem Kongress in verschiedenen Foren gezeigt. Die Teilnehmer schauen sich Beispiele an, wie die IG Metall vor Ort in den Betrieben ein bestimmtes Problem angegangen ist und wie dabei eine gute Lösung für die Arbeitnehmer herauskam.

Politik muss Rahmenbedingungen setzen

Trotz der guten betrieblichen Beispiele steht fest: Gewerkschaften können zwar Vieles lösen können, aber sie benötigen dafür von der Politik auch bestimmte Rahmenbedingungen, die tarifliche und betriebliche Lösungen unterstützen und soziale Absicherung und Teilhabe für alle sicherstellen.

Ein ideales Zusammenspiel: Der Gesetzgeber definiert Mindeststandards und verhindert Missbrauch. Tarifverträge bieten passgenaue Ansprüche und Rechte in einer differenzierten und sich schnell verändernden Arbeitswelt. Die Mitbestimmung sichert deren Umsetzung im Betrieb.

"Wir wollen diesen Kongress auch dazu nutzen", sagte Hofmann, "im Vorfeld der Bundestagswahl unsere Forderungen an die Politik deutlich zu machen." Den Sozialstaat weiterzuentwickeln, verlange ein radikales Umsteuern.

Rechtsanspruch auf Weiterbildung

Denn beispielsweise die Digitalisierung der Arbeitswelt verlange, dass Bildung während des gesamten Erwerbslebens individueller Rechtsanspruch und der Zugang zu Bildung und Weiterbildung ein öffentliches Gut werde.

Die umfassende und immer schnellere Veränderung unserer Wertschöpfung sei eine unbestreitbare Tatsache: neue Produkte, neue Prozesse, neue Geschäftsmodelle auf der einen Seite, Wegfall von Tätigkeiten bis hin zum Aus für Betriebe auf der anderen Seite. Dies verlange vom Sozialstaat, diese ständigen Transformationen in der Arbeitswelt gerecht und sicher zu gestalten. "Und verlangt damit auch eine Abkehr von der Arbeitsmarktpolitik der Agenda 2010.", sagte Hofmann.

Der Sozialstaat müsse auch auf noch breiter und solidarischer aufgestellt werden, da die Gesellschaft, Lebensentwürfe und Erwerbsformen vielfältiger geworden seien. Er müsse noch stringenter mit der Erwerbstätigkeit verknüpft werden. Den Konzepten eines bedingungslosen Grundeinkommens sei eine klare Absage zu erteilen.

Vielmehr müsse der Sozialstaat durch radikales Umsteuern weiterentwickelt werden - durch ein Umsteuern, das den Sozialstaat für die digitale und globale Arbeitsgesellschaft fit macht. Und dies ohne dass sein Versprechen auf Gerechtigkeit, Sicherheit und Selbstbestimmung für alle verloren geht. "Genau darum geht es beim Sozialstaat 4.0", betonte Jörg Hofmann.

Letzte Änderung: 20.12.2016