Memorandum zur Gesundheitsreform

IG Metall

11.07.2002 "Sozialstaatliche Verantwortung statt marktgläubiger Privatisierung"

Die IG Metall hat in Zusammenarbeit mit den Regierungsparteien und Wissenschaftlern ein Memorandum zur Gesundheitsreform erarbeitet. Dieses Memorandum "Sozialstaatliche Verantwortung statt marktgläubiger Privatisierung" hat IG Metall-Vorstandsmitglied Horst Schmitthenner mit weiteren Autoren am Donnerstag in der Bundespressekonferenz in Berlin vorgestellt.

Horst Schmitthenners Erklärung vor der Bundespressekonferenz hat folgenden Wortlaut:

"Nach der Reform ist vor der Reform" - dieses, an den Fußballphilosophen Sepp Herberger angelehnte Motto passt wohl in kein Politikfeld so gut wie in die Gesundheitspolitik. Wie die Bundestagswahl auch enden mag - die nächste "große Gesundheitsreform" dürfte auf der politischen Agenda ganz oben stehen. Dabei ist die Debatte über die zentralen Reformfelder und -schritte bereits in vollem Gange. In diese Debatte wollen wir uns mit dem vorliegenden Memorandum einmischen. Es wurde verfasst von Vertreterinnen und Vertretern aus den Gewerkschaften, der Wissenschaft und der Politik. Wir haben uns zu diesem Schritt entschlossen, weil uns gemeinsame Sorgen und Anliegen verbinden. Sorgen bereiten uns vor allem die Verkürzungen und Fehldeutungen in der aktuellen Debatte. Zwar wird seit Jahren viel über das Gesundheitssystem geredet. Doch letztlich stehen stets Fragen der Finanzierung, vor allem der Entwicklung der Beitragssätze zur gesetzlichen Krankenversicherung im
Vordergrund. Der eigentliche sozialstaatliche Auftrag des Gesundheitssystems rückt immer weiter in den Hintergrund.
Dieser Auftrag besteht unseres Erachtens darin,

eine hochwertige,
solidarisch finanzierte
und allen Mitgliedern der Gesellschaft offenstehende Versorgung zu gewährleisten
und diese Versorgung möglichst effizient und effektiv zu organisieren. Die gängige Krisen- und Katastrophen-Rhetorik hat längst zu einer gesellschaftlichen "Alarmstimmung" geführt, die einen problemgerechten Blick auf die Stärken und auf die natürlich reichlich vorhandenen Defizite im deutschen Gesundheitssystem erheblich trübt und Fehldeutungen Vorschub leistet. In dieser Stimmung gewinnen vermeintlich moderne Reformkonzepte an Zustimmung, die wir mit Blick auf den Solidarcharakter und die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems für perspektivlose Sackgassenstrategien halten.
Als solche bewerten wir insbesondere Forderungen:

nach der Rückführung des gesetzlichen Leistungskatalogs auf eine Grundversorgung;
nach der Einführung von Elementen aus der privaten Krankenversicherung (wie Selbstbehalte, Bonusregelungen, differenzierte Versicherungstarife usw.) nach der Festschreibung des Arbeitgeberbeitrages, sowie nach einer weiteren Ausweitung von Marktbeziehungen und Wettbewerb zwischen den Akteuren des Versorgungsgeschehens.
Ein Blick in die Wahlprogramme der konservativen und liberalen Opposition in Berlin, in die Strategiepapiere mancher Ärzte- und Industrieverbände oder in die Publikationen so mancher Gesundheitsökonomen mag belegen, das wir hier nicht über ungelegte Eier reden. Wir sind uns nicht sicher, ob die drohenden Folgeschäden solcher Strategien in der öffentlichen Wahrnehmung ausreichend Berücksichtigung finden. Oftmals scheint die Leichtfertigkeit, mit der diese Forderungen propagiert werden, auf eine gefährliche Geringschätzung des zivilisatorischen Wertes zu beruhen, den das deutsche Gesundheitssystem, trotz aller Defizite, doch immer noch repräsentiert. Wir sind der Auffassung, dass der Wert einer guten Krankheitsversorgung und Gesundheitsförderung für die Lebensqualität des Einzelnen wie für den Solidarcharakter der Gesellschaft insgesamt kaum überschätzt werden kann.

Und wir sind der Auffassung, dass es Anliegen einer engagierten Reformpolitik sein muss, diesen Wert nicht zu verspielen, sondern ihn zu erhalten und zu steigern. Um nicht missverstanden zu werden: wir wenden uns nicht gegen dringend notwendige Reformen, für die wir in unserem Text selbst Vorschläge unterbreiten. Es geht uns um den Blick "auf das Ganze", "auf das Wesentliche", der uns im üblichen Kampf um Partikularinteressen im Gesundheitssystem und in den oft kurzsichtigen Wahlkampfkalkulationen der Regierungsparteien erheblich zu kurz kommt. Aus der Verantwortung für die Sicherung einer guten Gesundheitsversorgung können und wollen wir den Sozialstaat nicht entlassen. Er steht in der Pflicht, Aufgaben, Macht und Interessenlagen zwischen den einzelnen Akteuren im Gesundheitswesen so zu verteilen, dass diese bei der Verfolgung ihrer legitimen Interessen nicht auf die Schwächung, sondern auf die Stärkung von Solidarität und Qualität in der Versorgung hinwirken.

Mehr Privatisierung, Wettbewerb und Lobbymacht helfen da nicht weiter. Das haben die Erfahrungen mit den vergangen Reformen sowie einschlägige wissenschaftliche Studien längst belegt. Statt dessen setzen wir auf mehr Stabilität und Gerechtigkeit in der Finanzierung, staatliche Steuerungsverantwortung und mehr Qualitätssicherung. Hier sind ein effektiver Ordnungsrahmen, verbindliche Spielregeln und eindeutige Kompetenzzuteilungen notwendig. Sie haben ihre Tauglichkeit vor dem zu beweisen, um das es doch eigentlich bei der ganzen Veranstaltung geht: die optimale Versorgung der Versicherten und der Patienten.

Aus dieser Perspektive haben wir in unserem Memorandum auf das deutsche Gesund­heitswesen geblickt und Stärken und Schwächen benannt. Und in diese Richtung zielen die Vorschläge, die wir als Elemente einer solidaritäts- und qualitätsorientierten Gesundheitsreform für sinnvoll, ja für unverzichtbar halten.

Sie finden daher im vorliegenden Text Analysen und Reformvorschläge:

zu Fragen der Qualität in der Versorgung
zu Fragen der Effizienz des politischen Steuerungsmodells zu Fragen der Einbeziehung der Arbeitswelt in die Gesundheitsdebatte
sowie zu Fragen der Verteilungsgerechtigkeit mit Blick auf ein modernes Finanzierungsmodell des deutschen Gesundheitswesens. Dabei haben wir erst gar nicht den Versuch unternommen, auf elf Seiten die gesamte gesundheitspolitische Welt erklären und alle Probleme lösen zu wollen.

Uns geht es nicht um Vollständigkeit, sondern um die Skizze eines Entwicklungspfades für das deutsche Gesundheitssystem, auf dem es den auch zukünftig unverzichtbaren sozialstaatlichen Anforderungen gerecht werden könnte.

Letzte Änderung: 21.03.2013