Überfordert

IG Metall Jugend

10.06.2005 Immer mehr Auszubildende kommen mit den Ansprüchen ihrer Lehrstellen nicht zurecht und schmeißen hin

Aus der Frankfurter Rundschau vom 08. Juni 05 Von ASTRID DÖRNER.

Sven sitzt vor seinen Büchern und verbiegt eine Büroklammer. "Mittwochs und freitags sind die schlimmsten Tage", nuschelt der 20-Jährige mit den kurz geschorenen Haaren. Wenn er an die Berufsschule denkt, verschluckt der junge Mann noch mehr Silben als sonst. "Zahlen haben mich noch nie interessiert", sagt er trotzig. Mittwochs und freitags wartet Mathe auf ihn.

Handelsfachpacker will der junge Mann werden, der hier Sven genannt wird, weil er seinen wirklichen Namen nicht in der Zeitung lesen will. In einem mittelständischen Betrieb im rheinischen Langenfeld nimmt er Waren entgegen und kontrolliert Lagerbestände. Zupacken kann er. Doch Dreisatz, Prozentrechnung, Flächen berechnen - das macht den kräftigen Jugendlichen im dritten Lehrjahr nervös. Aus Frust wurde schnell Resignation: "Ich hatte total Angst, dass ich die Abschlussprüfung nicht schaffe." Sein Entschluss stand fest: Hinschmeißen. Die Ausbildung abbrechen.

Sven ist mit seinem Problem nicht allein. "Die Zahl der Überforderten steigt", beobachtet Volker Koehnen, Landesjugendleiter der Gewerkschaft Verdi in Hessen. Auch Arbeitsagenturen, Industrie- und Handelskammern sowie Ausbildungsbetriebe warnen vor steigenden Abbrecherquoten. Für Gewerkschafter Koehnen liegt eine Ursache in veränderten Rahmenbedingungen: Durch den Mangel an Ausbildungsplätzen schraubten Betriebe die Anforderungen hoch. "Die Einstellungstests sind schwerer geworden. Der Leistungsdruck wird auf die jungen Leute abgewälzt", meint der Verdi-Mann.

Die Abbrecherquote liegt nach Gewerkschaftsangaben bei 20 Prozent. In manchen Branchen wie dem Hotel- und Gaststättengewerbe brechen demnach sogar zwei von fünf Lehrlingen ihre Lehre ab. Auch Ausbildungen bei Freiberuflern, Ärzten und Rechtsanwälten gingen überdurchschnittlich häufig schief.

Die Hoffnung, die Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) und die Wirtschaftsverbände mit dem Ausbildungspakt geweckt haben, ist verflogen. Zwar wurden im ersten Pakt-Jahr laut Bundesagentur für Arbeit 59 500 neue Lehrstellen geschaffen. Ende Mai waren aber immer noch 308 700 Jugendliche auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz - nur ein knappes Prozent weniger als im Vorjahr. Und diejenigen, die eine Stelle finden, scheitern in ihrer Lehrzeit immer öfter.

So wie Nina aus Hamburg, die eigentlich auch einen anderen Namen hat. Nach über 20 Bewerbungen war die Abiturientin froh, eine Ausbildungsstelle ergattert zu haben - als Pharmakantin, die Medikamente herstellt. Doch mit den Zeitplänen in dem mittelständischen Betrieb war sie hoffnungslos überfordert. "Mit dem Tempo konnte ich nie mithalten", erzählt die 22-Jährige. Als der Druck stieg, wusste Nina nicht, wohin damit. Sie verlor 15 Kilo Gewicht in zwei Monaten, bekam Schlafstörungen. Als auch ein Psychologe ihr nicht helfen konnte, sah sie nur noch einen Ausweg: Abbrechen.

Bei der Fahndung nach den Gründen, die zur Aufgabe führen, sind Ausbildungsberater auf drei typische Muster gestoßen. Die Defizite seien entweder fachlich bedingt, sozial verursacht oder beruhten darauf, dass Auszubildende schlicht die Anforderungen der Berufe nicht gut genug kennen. "Das Hauptproblem ist die fachliche Überforderung", erklärt Ausbildungsberaterin Erika Kömpel von der IHK Köln. Haupt- und Realschulen schafften es immer seltener, ihre Absolventen auf die Berufsschule vorzubereiten. Die Defizite könnten in der Ausbildung nicht mehr aufgefangen werden.

Auch Hauptschulabsolvent Sven gesteht kokett: "Bruchrechnen hab ich erst vor ein paar Wochen kapiert." Seit zwei Monaten keimt bei ihm Hoffnung, die Abschlussprüfung vielleicht doch zu bestehen. Er macht eine "ausbildungsbegleitende Hilfe". Das ist kostenlose Nachhilfe für Lernschwache, die bundesweit verschiedene Träger im Auftrag der Arbeitsagenturen anbieten.

Bei Ausbildungsberaterin Kömpel häufen sich aber auch andere Beschwerden: "Manche Jugendliche genügen den mindesten sozialen Anforderungen nicht." Viele sprächen nicht in ganzen Sätzen, seien unpünktlich und schickten zur Krankmeldung einfach eine SMS. "Wer weder im Elternhaus noch in der Schule lernt, wie man angemessen kommuniziert, schafft das auch nicht mit Kollegen und Vorgesetzten. Logisch, dass das dem Arbeitsklima schadet", sagt IHK-Beraterin Kömpel.

Mehr als nur motivationshemmend wirke auch die Tatsache, dass viele ihre eigentlichen Neigungen bei der Ausbildungsplatzwahl hintanstellen müssen. Die Wahllosigkeit nach dem Schulabschluss habe seit Beginn der "Ausbildungsmisere" im Jahr 2003 deutlich zugenommen, sagt Kömpel. Bei den IHKs gingen regelmäßig Anrufe von Schulabgängern ein, die verzweifelt nach einem Ausbildungsplatz fragten: "Ich mache alles, Hauptsache eine Ausbildung", bekämen die Berater zu hören. Damit sei das Scheitern programmiert.

Auch Nina wäre lieber Rechtsanwaltsgehilfin geworden, anstatt im Labor zu stehen. Nach ihrem Abbruch steht sie nun mit leeren Händen da. Eine neue Stelle hat sie noch nicht. Den zweiten Versuch will sie auf jeden Fall wagen. Die Hamburgerin geht zu Berufsberatungen und denkt auch über ein Studium nach. Doch die Angst, wieder zu versagen, sitzt ihr im Nacken: "Ich bin da nicht mehr so optimistisch wie nach der Schule."

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Letzte Änderung: 21.03.2013